Tarvoc hat geschrieben:Zunächst einmal: Der Philosophie geht es um das Denken selbst, nicht um ein Wissen oder seine Erlangung. Selbst da, wo sie sich mit Wissen befasst (etwa in der Wissenschaftstheorie), ist Wissen nicht ihr Ziel, sondern ihr Gegenstand: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Wissen über einen bestimmten Gegenstand zu erlangen, sondern darum, darüber nachzudenken, was wir eigentlich Wissen nennen. Auch hier geht es also eigentlich um das Denken bzw. um das Nachdenken über Wissen.
Was aber ist Wissen im Unterschied zum Denken? Wissen, könnte man sagen, ist eine Art geronnener Gedanken, also Gedanken, die aufgehört haben, gedacht zu werden. Man könnte auch sagen, Wissen verhält sich zum Denken wie das Kapital zur Arbeit. Wissen hat dabei stets die Struktur einer Subjekt-Objekt-Spaltung: Hier ist der Wissende, das Subjekt, dort das Gewusste oder das Objekt. Das Denken hingegen, insofern es echtes, originäres Denken ist und nicht nur eine Reproduktion erlernten Wissens, ist ein Denken des Anderen, des Dritten, ein Denken also, das das Undenkbare einbezieht und für es Zeugnis ablegt. Es setzt die Subjekt-Objekt-Spaltung nicht voraus, sondern in ihm kann sie erst ihre Statt finden (so wie die Lohnarbeit nur die entfremdete Form der Arbeit im Kapitalismus ist).
Man kann sagen, der Wissende verhält sich zum Objekt des Wissens wie der Kapitalist zu den Produktionsmitteln, die er als Kapital eignet. Daher die Redeweise vom "Humankapital": "Humankapital" ist jener Mensch, der weiss, aber nicht (mehr) denkt.
Im Kapitalismus ist die Arbeit durch ihre Ausrichtung auf die Kapitalakkumulation und das Denken durch seine Ausrichtung auf die Akkumulation von Wissen entfremdet. Wie die Arbeit das Kapital des Kapitaleigners mehrt, wird das Denken auf die bloße Reproduktion der Subjekt-Objekt-Dichotomie reduziert, welche dadurch quasi naturalisiert wird. Der Denker wird dabei gleichzeitig zu einem bloßen Eigner von Wissen gemacht und seinem eigenen Denken entfremdet, welches auf die reine Produktion und Reproduktion wirtschaftlich verwertbaren Wissens reduziert wird. Konkret äußert sich dies z.B. in der Verwirtschaftlichung der Universitäten, der die so genannten Geisteswissenschaften genau darum stets zuerst zum Opfer fallen müssen.
Was nun? Was aber, wenn man das Wissen dem Denken unterwürfe, sodass Wissen nicht mehr nur angesammelt, sondern stets einer Neuzusammenstellung, Re-editierung, Re-kommentierung, Neueinschreibung, und so weiter unterworfen würde. Um die Hegemonie des Wissens über das Denken zu brechen ist es keinesfalls nötig, damit aufzuhören, sich weiterzubilden oder Wissen zu erwerben. Gegenwärtig ist das Denken der bloßen Ansammlung oder Akkumulation von Wissen unterworfen. Gar kein Wissen anzusammeln wäre so, als würde man die Fabriken anzünden, um die Hegemonie des Kapitals über die Arbeit zu brechen. Und das wäre ja ein Bruch der Hegemonie. Aber die Arbeit müsste dann quasi wieder bei Null beginnen. Sehr sinnvoll scheint eine solche Strategie nicht zu sein.
Bei all dem scheint die Hegemonie des Wissens über das Denken eng mit der Hegemonie des Kapitals über die Arbeit verbunden. Es mag unmöglich sein, das eine vollständig aufzuheben, ohne das andere mit aufzuheben. Aber man kann auf dem Weg einzelne Schritte tun.