Die Kritik Sloterdejks geht noch ein paar Seiten weiter, aber ich kann mich in diesem Punkt anschließen. Ich sehe es nicht als hinreichend bewiesen, dass das Kollektivbewußtsein forschrittlicher wäre gegenüber dem Stirnerschen Egoismus.Angesichts der auto-konsumistischen Provokation des Werks Der Einzige und sein Eigentum ist begreiflich, aus welchen Gründen die Vordenker des "wissenschaftlichen Sozialismus", Karl Marx und Friedrich Engels, sich in den polemischen Exerziten der Deutschen Ideologie (1845) besonders an den Thesen Stirners abarbeiteten: Hatte dieser doch mit seiner Proklamation des sich selbst verzehrenden singulären Ich einen radikalisierten Konsumenten-Standpunkt eingenommen, dem nur durch die Entgegensetzung eines ebenso radikalisierten Produzenten-Standpunkts beizukommen war. Ideenhistoriker haben in der Regel nicht bemerkt, in welchem Maß der spätere Marxismus mit seinen beiden Pathos-Formeln "Produktion" und "Klassenbewußtsein" von der Sorge um die Neutralisierung des Stirnerschen Selbst-Konsumismus beunruhigt war. Ob allerdings die Marx-Engelsche Kritik an Stirners Thesen wirklich als Fortsetzung des kritischen Prozesses gelten darf, ist mit starken Gründen zu bezweifeln: Könnte es einen massiveren Rückfall in den Dogmatismus geben als die sozialontologische Grundannahme der Sutoren, wonach die "Wirklichkeit" eines SUbjekts "in letzter Instanz" durch eine Stellung im Ganzen der "Produktionsprozesse" bestimmt sei?
In den Augen von Marx und Engels bedeuten Stirners Wendung in den affirmativen Egoismus ein "ideologisches" Konstrukt, das die Klassenvergessenheit des immer noch von falschen Abstraktionen umnebelten deutschen Kleinbürgertums zum Ausdruck bringe. Als dessen frecher Exponent habe Stirner das Wort ergriffen: Nach der Ansicht der totalistischen Soziologen kommt im Individuum aber immer nur seine Klasse zu Wort. Das Einzelne ist nicht nur unaussprechlich, es kann auch letztlich nichts Eigenes zu sagen haben.
Aufgund der Sprachregelung, die von Marx-Engelsschen Kritik eingeführt und verfestigt wurde, wandelt sich der Begriff "Klasse" zum terminus technicus einer Sozialphilosophie mit problematischen holistischen und antiindividualistischen Implikationen: Sie fragt ausschließlich nach "Stellungen" eines "Subjekts" in den vorgeblich alles bestimmenden "Produktionsverhältnissen", ohne dem Einzelnen eine Eigenwirklichkeit jenseits seiner Beiträge zur "Reproduktion der Produktionsverhältnisse" zuzubilligen. In der sechsten These über Feuerbach wird buchstäblich statuiert, das "reale Wesen" des Einzelnen sei das "ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (siehe den Aufsatz 'Oversocialised Concept of Man in Modern Sociology' vom Soziologen Dennis Wrong [zusammefassung der fußnote]). Was sich im Selbsterlebnis als real existierendes Subjekt - oder als lokale Kopie des absoluten Lebens - auffaßt, ist demnach stets ein pseudosubjektives Trugbild. Das kleinbürgerliche Ich kann nur der Schauplatz der Selbstverkennung sein. Es ist ein Parasit, der seinen Wirt mißversteht, indem er sich für dessen Herrn und Meister hält.
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Wobei Sloterdeijk auch Stiner kritisiert, zB in dem dieser nur implizit zwischen geistigen und materiellen Erbe unterscheidet.
Die Hauptthese Sloterdeijks Buches beschäftigt sich mit der 'Bastardisierung der Gesellschaft', dadurch das traditionslinien nichts mehr gelten, was zu einem dauerhaften Kampf aller gegen alle führt. In diesem Punkt kann ich Sloterdeijk nicht folgen. Er scheint irgendein goldenes Zeitalter im Blick zu haben, dass irgendwann mal existiert habe, wo die Kinder noch das taten, was ihre Eltern sagten. Nunja.
Ich habe eher den Eindruck, wir haben den Eindruck von Ruhe, wenn wir uns die Geschichte angucken, denn wir kennen ihren Ausgang, wir stehen in der Gegenwart. Aber ich denke die Zeiten waren schon immer chaotisch, mit kurzen Ruhephasen dazwischen