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Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 19. Oktober 2016, 13:17
von fehlgeleitet
Aus 'die schreklichen Kinder der Neuzeit', Seite 461 ff
Angesichts der auto-konsumistischen Provokation des Werks Der Einzige und sein Eigentum ist begreiflich, aus welchen Gründen die Vordenker des "wissenschaftlichen Sozialismus", Karl Marx und Friedrich Engels, sich in den polemischen Exerziten der Deutschen Ideologie (1845) besonders an den Thesen Stirners abarbeiteten: Hatte dieser doch mit seiner Proklamation des sich selbst verzehrenden singulären Ich einen radikalisierten Konsumenten-Standpunkt eingenommen, dem nur durch die Entgegensetzung eines ebenso radikalisierten Produzenten-Standpunkts beizukommen war. Ideenhistoriker haben in der Regel nicht bemerkt, in welchem Maß der spätere Marxismus mit seinen beiden Pathos-Formeln "Produktion" und "Klassenbewußtsein" von der Sorge um die Neutralisierung des Stirnerschen Selbst-Konsumismus beunruhigt war. Ob allerdings die Marx-Engelsche Kritik an Stirners Thesen wirklich als Fortsetzung des kritischen Prozesses gelten darf, ist mit starken Gründen zu bezweifeln: Könnte es einen massiveren Rückfall in den Dogmatismus geben als die sozialontologische Grundannahme der Sutoren, wonach die "Wirklichkeit" eines SUbjekts "in letzter Instanz" durch eine Stellung im Ganzen der "Produktionsprozesse" bestimmt sei?
In den Augen von Marx und Engels bedeuten Stirners Wendung in den affirmativen Egoismus ein "ideologisches" Konstrukt, das die Klassenvergessenheit des immer noch von falschen Abstraktionen umnebelten deutschen Kleinbürgertums zum Ausdruck bringe. Als dessen frecher Exponent habe Stirner das Wort ergriffen: Nach der Ansicht der totalistischen Soziologen kommt im Individuum aber immer nur seine Klasse zu Wort. Das Einzelne ist nicht nur unaussprechlich, es kann auch letztlich nichts Eigenes zu sagen haben.
Aufgund der Sprachregelung, die von Marx-Engelsschen Kritik eingeführt und verfestigt wurde, wandelt sich der Begriff "Klasse" zum terminus technicus einer Sozialphilosophie mit problematischen holistischen und antiindividualistischen Implikationen: Sie fragt ausschließlich nach "Stellungen" eines "Subjekts" in den vorgeblich alles bestimmenden "Produktionsverhältnissen", ohne dem Einzelnen eine Eigenwirklichkeit jenseits seiner Beiträge zur "Reproduktion der Produktionsverhältnisse" zuzubilligen. In der sechsten These über Feuerbach wird buchstäblich statuiert, das "reale Wesen" des Einzelnen sei das "ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (siehe den Aufsatz 'Oversocialised Concept of Man in Modern Sociology' vom Soziologen Dennis Wrong [zusammefassung der fußnote]). Was sich im Selbsterlebnis als real existierendes Subjekt - oder als lokale Kopie des absoluten Lebens - auffaßt, ist demnach stets ein pseudosubjektives Trugbild. Das kleinbürgerliche Ich kann nur der Schauplatz der Selbstverkennung sein. Es ist ein Parasit, der seinen Wirt mißversteht, indem er sich für dessen Herrn und Meister hält.
...
Die Kritik Sloterdejks geht noch ein paar Seiten weiter, aber ich kann mich in diesem Punkt anschließen. Ich sehe es nicht als hinreichend bewiesen, dass das Kollektivbewußtsein forschrittlicher wäre gegenüber dem Stirnerschen Egoismus.
Wobei Sloterdeijk auch Stiner kritisiert, zB in dem dieser nur implizit zwischen geistigen und materiellen Erbe unterscheidet.

Die Hauptthese Sloterdeijks Buches beschäftigt sich mit der 'Bastardisierung der Gesellschaft', dadurch das traditionslinien nichts mehr gelten, was zu einem dauerhaften Kampf aller gegen alle führt. In diesem Punkt kann ich Sloterdeijk nicht folgen. Er scheint irgendein goldenes Zeitalter im Blick zu haben, dass irgendwann mal existiert habe, wo die Kinder noch das taten, was ihre Eltern sagten. Nunja.

Ich habe eher den Eindruck, wir haben den Eindruck von Ruhe, wenn wir uns die Geschichte angucken, denn wir kennen ihren Ausgang, wir stehen in der Gegenwart. Aber ich denke die Zeiten waren schon immer chaotisch, mit kurzen Ruhephasen dazwischen :pyra:

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 20. Oktober 2016, 02:06
von Tarvoc
fehlgeleitet hat geschrieben:Ich sehe es nicht als hinreichend bewiesen, dass das Kollektivbewußtsein forschrittlicher wäre gegenüber dem Stirnerschen Egoismus.
Naja, um "Kollektivbewusstsein" und "Fortschrittlichkeit" geht es hier ja auch nicht, sondern darum, ob das Subjekt bzw. das eigene Selbstbewusstsein (1) ein Produkt der Stellung des Individuums im Produktionsprozess ist und (2) auf eine Art ideologischen Reflex dieser Stellung reduziert werden kann. Ich verstehe Sloterdijks Kritik an Marx und Engels in der von dir zitierten Passage, bin aber der Ansicht, dass er nicht ausreichend zwischen (1) und (2) differenziert.

Übrigens danke für die Buchempfehlung. Das hilft mir womöglich auch für meine Dissertation weiter.

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 20. Oktober 2016, 15:34
von fehlgeleitet
ach so, dann habe ich das bisher auch immer falsch verstanden.

ok, macht Sinn.

Schön das du mit dem Buch was anfangen kannst.

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 21. Oktober 2016, 15:58
von Tarvoc
Ob ich damit was anfangen kann, wird sich noch zeigen. Selbst im schlimmsten Falle dürfte es aber immer noch als zeitgenössisches Beispiel für ideologisches Denken fungieren können. 8-) :ugly:

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 27. Oktober 2016, 23:22
von fehlgeleitet
Das Buch "Postkapitalismus" von Paul Mason behandelt die Theorie der langen Zyklen und versucht zu beweisen, dass sie näher an der Wahrheit ist als alle anderen marxistischen Krisentheorien. Zumindest im 1. Teil, den ich gerade lese.

Die Theorie der langen Zyklen behaupet, dass der Kapitalismus alle 50 Jahre mutiere und vollkommen neue Strukturen bilde - und zwar weder durch äußer Schocks noch durch technische Innovation, sondern weil die Wirtschaft 50 Jahre braucht um diese Strukturen voll auszubauen.

Die neuartige Informationsstruktur, in Form des www würde den Kapitalismus in ein geschlossenes System verwandeln, weswegen er in einen "postkapitalistischen" zustand zu geraten droht? das habe ich noch nicht so genau verstanden.

Vielleicht bringt dir das irgendwas?

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 28. Oktober 2016, 12:03
von Tarvoc
Für meine Diss nicht unmittelbar, aber ich schau's mir mal an.

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 4. November 2016, 16:56
von fehlgeleitet
wikipedia: Andre Gorz hat geschrieben:
Viel diskutiert wurde in Frankreich die 1997 erschienene Schrift Misères du présent, richesses du possible (dt.: Arbeit zwischen Misere und Utopie, 2000), wo Gorz das Ende der Vollbeschäftigung als Chance begreift und der Frage nachgeht, wie in einer solchen Gesellschaft die Funktion der Arbeit durch andere Aktivitäten ersetzen werden könnten. In dieser Schrift begründete Gorz mit marxistischen Argumenten das Grundeinkommen. 2003 führte Gorz in seinem letzten großen Werk L’immatériel (dt.: Wissen, Wert und Kapital, 2004) aus, dass sich Wissen nicht zur Behandlung als Privateigentum eigne, da es keinen Warencharakter besitze, sondern vielmehr als Gemeingut verstanden werden sollte.
Im Prinzip sagt Gorz, dass jede auf Arbeit beruhende Utopie durch den Neoliberalismus verunmöglicht wurde. In irgendeinem Thread hattest du ja mal gesagt, dass das BGE aus marxistischer Sicht Käse ist. Herr Gorz scheint anderer Meinung zu sein, denn er scheint an einen Marxismus zu glauben, bei dem die Arbeit nicht im Mittelpunkt steht? Aber vielleicht war er kein Marxist mehr, als er das Buch schrieb.

Ich bin auf ihn über das Buch Postkapitalismus gestoßten.

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 4. November 2016, 21:39
von Tarvoc
:mrgreen: Was ich wirklich gesagt habe, war das hier. Das ist noch nicht mal besonders "marxistisch", sondern einfach allgemein sozialistisch.

Der Marxismus zielt übrigens nicht auf Vollbeschäftigung, sondern nachgerade auf das Gegenteil.

Statt des konservativen Mottos: "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!", sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: "Nieder mit dem Lohnsystem!"
- Karl Marx, "Lohn, Preis und Profit", MEW 16, S. 152

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 4. November 2016, 23:31
von fehlgeleitet
Tarvoc hat geschrieben: :mrgreen: Was ich wirklich gesagt habe, war das hier. Das ist noch nicht mal besonders "marxistisch", sondern einfach allgemein sozialistisch.

Der Marxismus zielt übrigens nicht auf Vollbeschäftigung, sondern nachgerade auf das Gegenteil.

Statt des konservativen Mottos: "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!", sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: "Nieder mit dem Lohnsystem!"
- Karl Marx, "Lohn, Preis und Profit", MEW 16, S. 152

wenigstens das wort "käse" habe ich mir richtig gemerkt, immerhin :-)

Re: Stirner vs Marx mit sloterdeijk als kommentator

Verfasst: 5. November 2016, 02:08
von Tarvoc
:mrgreen: