Mitläufer fördern die Demokratie
Verfasst: 18. Mai 2012, 07:54
Artikel aus Max Planck Forschung 1.2012
Die Mehrheit kann davon profitieren, wenn Individuen nicht informiert sind
Ob in einem Fischschwarm oder in einer menschlichen Gesellschaft: Soziale Lebewesen müssen gemeinsam Entscheidungen treffen. Nicht immer setzt sich dabei die Mehrheit durch. In manchen Fällen gelingt es einer zielstrebigen kleinen Gruppe, die ganze Gemeinschaft in ihrem Sinne zu beeinflussen. Ein Forscherteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme in Dresden hat anhand von Computermodellen und Verhaltensstudien an Fischen herausgefunden, dass uninformierte Individuen die Entscheidung einer Mehrheit unterstützen und verhindern können, dass sich eine besonders entschlossene Minderheit durchsetzt. Für eine demokratische Gesellschaft bedeutet dies, dass unentschlossene Individuen nicht zwangsläufig eine Gefahr für die demokratische Willensbildung darstellen, sondern sie vor der Dominanz einer kleinen, aber willensstarken Gruppe schützen können.
Ein entschiedenes "Vielleicht": Zeitgenossen mit dieser Haltung können für die Demokratie förderlich sein.
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Die Geschichte hält viele Beispiele dafür parat, wie es einer Handvoll Entschlossener oder sogar einzelnen Individuen gelungen ist, ganze Gesellschaften hinter sich zu versammeln und zu lenken. Nach gängiger Ansicht haben solche Gruppen immer dann Erfolg, wenn sie auf viele schlecht informierte und noch unentschlossene Individuen treffen. Diese neigen besonders dazu, den Entscheidungen anderer zu folgen und sich der Entschlossenheit einer Gruppe zu fügen – selbst wenn diese in der Minderheit ist.
Eine Forschergruppe unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme ist nun zu einem anderen Ergebnis gelangt. Die Wissenschaftler haben anhand verschiedener Computermodelle gezeigt, dass uninformierte Individuen auch eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen können, und zwar selbst dann, wenn die Minderheit entschlossener ist als die Mehrheit.
„Unsere Simulationen bestätigen zunächst, was wir erwartet haben: Eine kleine Gruppe kann eine größere dominieren, wenn sie entschlossener ein bestimmtes Ziel verfolgt. Überrascht hat uns aber das Ergebnis, dass dies eine Gruppe von uninformierten oder unentschlossenen Individuen verhindern kann“, sagt Thilo Gross, der inzwischen vom Dresdner Max-Planck-Institut an die Universität Bristol gewechselt ist.
Offenbar übt die Größe einer Gruppe eine stärkere Anziehung aus als die Entschlossenheit einer kleineren Gruppe. Der Drang, einer relativ ausgeglichenen Mehrheit zu folgen, siegt also häufig über die Anziehungskraft einer äußerst zielstrebigen Minderheit. Voraussetzung ist jedoch, dass genügend uniformierte Individuen vorhanden sind, die sich der Mehrheit anschließen können.
In ihren Computermodellen simulierten die Wissenschaftler eine Entscheidungssituation mit zwei Wahlmöglichkeiten. Dabei konnten sie variieren, wie viele Individuen die eine oder die andere Option bevorzugten. Außerdem ließ sich verändern, wie stark die Individuen eine der beiden Optionen bevorzugten. Die Forscher haben ihren Modellen nur sehr wenige und allgemein gehaltene Annahmen zugrunde gelegt. „Unsere Ergebnisse gelten deshalb für alle Systeme, in denen die Individuen einander lieber folgen als mit ihnen in Konflikt geraten und ihre Entscheidungen an ihren Nachbarn ausrichten. Das trifft beispielsweise auf so unterschiedliche sozial lebende Organismen wie in Schwärmen lebende Fische und Vögel und auf Herden-bildende Säugetiere zu. Und natürlich lassen sich unsere Befunde auch auf menschliche Gesellschaften übertragen“, erklärt Gross.
Als Realitäts-Check für das Modell untersuchten die Forscher das Verhalten von Schwarmfischen. Dazu trainierten sie zwei Gruppen von Gold-Elritzen, Notemigonus crysoleucas, mithilfe von Futtergaben darauf, entweder auf eine gelbe oder eine blaue Scheibe zuzuschwimmen. Unter den Versuchsbedingungen besaßen die Tiere von Beginn an eine Vorliebe für die Farbe Gelb, so dass die auf Gelb trainierten Fische nach dem Training diese Farbe noch stärker bevorzugten als die auf Blau trainierten.
Die Verhaltensanalyse bestätigte das Ergebnis des Computermodells: Fünf auf Gelb trainierte Elritzen, also Tiere mit starker Vorliebe für diese Farbe, setzten sich gegen sechs auf Blau trainierte Fische durch, die weniger stark auf diese Farbe fokussiert waren: Der gesamte Schwarm schwamm zum gelben Ziel.
Ließen die Forscher in einer zweiten Versuchsreihe auch fünf oder zehn untrainierte Fische teilnehmen, so änderten diese den Ausgang der kollektiven Entscheidung. Die auf Gelb trainierten Fische konnten sich trotz ihrer starken Präferenz nicht mehr durchsetzen. Die untrainierten und deshalb uninformierten Tiere folgten der Mehrheit, und alle Fische steuerten auf die blaue Scheibe zu.
Auf den Menschen übertragen bedeutet dies: „Uninformierte und deshalb unentschlossene Individuen spielen bei kollektiven Entscheidungen eine wichtige Rolle. Sie können demokratische Willensbildung ermöglichen und verhindern, dass eine Minderheit das Ruder übernimmt“, sagt Gross. Die Berechnungen zeigen aber auch, dass die Zahl der Uninformierten nicht zu groß werden darf. Dann nämlich sind die Entscheidungen nicht mehr vorhersagbar und folgen einem Zufallsmuster.
EM/HR