Ein Bericht aus der Bürokratie...
Verfasst: 18. Oktober 2010, 14:25
Spiegel Online hat geschrieben:18. Oktober 2010, 11:22 Uhr
Mein Leben als Ausländer
Schlange stehen, abblitzen, Schlange stehen
Die Deutschen klagen oft und gern, alles sei so verdammt bürokratisch. Nur weil sie nicht wissen, wie es in Ämtern in Brüssel oder Rom zugeht. SPIEGEL-Korrespondent Hans-Jürgen Schlamp hat dort reichlich Lebenszeit investiert, um den Antrag auf einen Antrag zu erhalten.
Ach Landsleute daheim, was wisst Ihr schon von Eurem Land? Es gibt so viel Wunderbares. Und Ihr meckert immer. Über die Politik, zum Beispiel. Aber okay, das verstehe ich, darüber kann man wirklich nur meckern. Oder übers Wetter. Zugegeben, das Wetter in Deutschland ist nicht immer toll. Die Küche. Stimmt ja, die Küche könnte besser sein. Vor allem in Kantinen, Autobahnraststätten und bei selbstdekorierten Nobel-Italienern.
Und erst die Bürokratie! Formulare allerorten, deutsche Gründlichkeit und deutsche, also spießige Beamte, die einem die Zeit stehlen, weil die ja nichts Besseres zu tun haben. Das gilt nicht nur für die Amtsstuben, die Ärmelschoner bei der Post und in der Bank sind keinen Deut besser. Unsere Anliegen mittig lochen und abheften, das ist für die doch das Highlight des Tages!
Halt! Stopp! Das ist alles nicht wahr!
Nichts gegen die deutschen Bürokraten, bitte! Nicht gegen die Leute am Bankschalter, die braven Postler, die mir Briefmarken verkaufen und Pakete abnehmen. Die fehlen mir so oft, wenn ich in Brüssel endlos Schlange stehe, um einen etwas übergroßen Brief abgeben zu dürfen.
Und erst das Einwohnermeldeamt! Zweieinhalb Stunden habe ich in einem heruntergekommenen, lärmigen Saal angestanden. Die Reihen der Wartenden allesamt ausgerichtet auf kleine, halbdunkle Öffnungen, hinter denen Köpfe von Männern und Frauen auftauchten, verschwanden, wieder auftauchten. Nach der ersten Wartestunde war der Abstand geschrumpft, man sah, dass die Köpfe Oberkörper hatten, mit Armen und Händen daran, die manchmal Papiere entgegennahmen und manchmal die dargebotenen Papiere ablehnten - das waren dann wohl ungeeignete Dokumente, fehlerhaft ausgefüllte oder falsch ausgewählte Formulare - oder aber der Bittsteller brachte der Obrigkeit seine Begehren am falschen Schalter vor. Was bedeutete: In einer anderen, diesmal hoffentlich richtigen Schlange erneut anstehen.
Odyssee durch die Schalterhallen
In Brüssel sandte die Kommune die Benachrichtigung, dass ich die Aufenthaltsgenehmigung abholen dürfe, nach ein paar Wochen. Die Warteschlange war etwas kürzer. Mittwochs sei ein besserer Tag für Amtsgeschäfte als montags, erklärte mir mein Vormann. In Brüssel hat er vielleicht Recht, für Rom gilt das eher nicht.
Da habe ich mal einen kompletten Mittwochvormittag in der Kommune gestanden, Gebührenmarken an der Kasse erworben, an diversen Schaltern beglaubigte Kopien meiner Originaldokumente noch einmal beglaubigen lassen und in jeweils mehrfacher Ausfertigung der Verwaltung der unvergleichlich schönen Stadt überlassen. Antrag, Formulare und Kopien gingen im Verwaltungsablauf zügig verloren, es dauerte eineinhalb Jahre - in denen immer neue Ersatz-Kopien, -Anträge und -Formulare beigebracht werden mussten, deren Übergabe natürlich das Anstehen in immer neuen Warteschlangen erforderte.
Währenddessen scheiterten mehrere Versuche, bei der Elektrizitätsgesellschaft - auch dort jeweils: Schalterhalle, zwei Stunden warten - um den Stromtarif für römische Anwohner zu beantragen. Die Gesellschaft beharrte eineinhalb Jahre lang auf dem teuren Tarif für Nicht-Angemeldete - welcher Nicht-Angemeldete zahlt eigentlich Strom? - und empfahl mir, mich doch endlich im Einwohnermeldeamt registrieren zu lassen. Mit der Bescheinigung könnte ich dann...
Der bürgerliche Bittsteller wartet... und wartet... und wartet
Einzahlungen aufs eigene Bankkonto erfordern in Rom einen Pass, der kopiert und dem Einzahlungsformular beigeheftet wird. Bei Überweisungen geht's auch ohne Personaldokument, aber die Wartezeit vorm Banktresen ist genauso lang, je nach Bank und Tageszeit, ein bis drei Stunden. Natürlich erledigt man alles, was irgendwie machbar ist, via Online-Banking. Aber vieles erfordert persönliches Erscheinen, was heißt: persönliches Warten. Post, Bank, Amt, Strom- oder Gaslieferant - der bürgerliche Bittsteller wartet.
Gut, dafür lernt man viele Leidensgenossen kennen, schimpft gemeinsam, tröstet sich wechselseitig und holt zwischendurch für die neuen Bekannten Kaffee in der benachbarten Bar.
Und in Deutschland? Ein Beispiel: Filiale der Landeszentralbank in Bonn. Geld wechseln, schwierige Devisen, wäre bei der Hausbank in Rom gar nicht möglich. Nur drei Kunden in der Halle in Bonn. Streik? Feiertag? Ein junger Mann hinter einem Schalter winkt. Mir. Ich lege meinen Pass und eine vorbereitete Liste mit den Scheinen - Stückzahl, Wertangaben, Herkunftsland - auf den Tresen, zücke einen Kuli um die gewohnten fünf bis 15 Unterschriften zu leisten. Der junge Mann sieht mich seltsam an, nimmt die Scheine, sortiert sie, zählt sie, tippt ihre Daten in einen PC, legt einen Ausdruck beiseite, reicht mir den zweiten, zählt Geld ab, reicht es mir. "Haben Sie noch andere Wünsche?"
Äh, nein.
Ich packe verwirrt meine überflüssigen Utensilien ein, bin zwei Minuten später wieder draußen auf dem Parkplatz und weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich habe zwei Stunden als Minimum für den Geldhandel eingeplant.
Und erst das Einwohnermeldeamt! Heißt jetzt Bürgeramt in vielen Städten, man kann anrufen und einen Termin vereinbaren. Das Formular steht im Internet, sie schicken es aber auch zu. Warten beim Abholen des Dokuments: drei Minuten. Mann! Ehe ich in Brüssel oder anderswo zehn Briefmarken kaufen kann, habe ich in Deutschland zehnmal den Wohnsitz gewechselt.
Also meckern über Deutschland ist okay, aber nicht über die perfekten Bürokraten.
Hans-Jürgen Schlamp, Jahrgang 1950, berichtet für SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE aus Brüssel. Zuvor war er mehrere Jahre in Rom stationiert.