Thud-Inn
Verfasst: 24. Oktober 2017, 11:39
aus dem Pad:
Frank nahm den letzten Schluck seines lauwarmen Bieres. Mit einem Knurren zog er seine abgeranzte Lederjacke an, band sich die ausgelatschten Schuhe und verließ sein Einzimmerappartement im Kellergeschoß eines Großstadtmenschensilos.
Er konnte seine finsteren Träume der letzten Wochen einfach nicht vergessen. Er errinerte sich verschwommen an eine Art gestaltloses Ungetüm, das versuchte, alles zu kontrollieren und alles sah. Er nannte dieses Wesen den Wächter mit den tausend Augen. Manchmal war es ihm so, als würden wir einschlafen, weil wir die Wirklichkeit nicht mehr ertragen und aufwachen, weil der Traum eine zu große Bürde darstellte. Und dann die Blicke der Anderen, er fürchtete sich bereits sein ganzes Leben vor ihnen. Allein beobachtet zu werden verursachte in ihm eine solch unangenehme Anspannung, dass es einer leisen Folter glich. Jeder Blick schien ihm eines weiteren kleinen Stückchen seiner Seele zu berauben. Falls er so etwas überhaupt noch besaß oder je besessen hatte.
Seine Stimmung war unterirdisch, daran änderten auch die etwa 2,35 Liter Bier die er in der letzten 23 Minuten gestürzt hatte erschreckend wenig. Auch die gewöhnliche Dosis Speed wollten ihn nicht in die erwartete Hochstimmung versetzen.
Es war Samstag Abend, seine Woche war geschwängert von Eintönigkeit und Schikane. Zum fünften Mal in Folge mußte er zum Wohle der Firma - er arbeitete Im Lager eines weltweit agierenden Konzerns - Überstunden kloppen. Er hasste seinen Job und hätte ihn vermutlich schon vor Jahren an den Nagel gehängt. Allerdings sahen seine Perspektiven nicht sonderlich rosig aus und er legte keinen gesonderten Wert darauf, von der Zentralbehörde für Arbeitskraftmanagement und Beschäftigungsverwaltung mit irgendwelchen noch erniedrigenderen und schlechter bezahlten Arbeitsmaßnahmen geknechtet zu werden.
Für gewöhnlich verschaffte ihm ein Spektrum von Uppers und Downers zumindeset einen temporären Ausgleich, aber nicht in diesem Herbst. Es war kälter finsterer und irgendwie auch nebeliger als die letzten Jahre um die gleiche Zeit.
Er verließ seine Wohnung vor der Dämmerung und betrat sie erst dann wieder, wenn die Sonne ihre letzten gnädigen Strahlen bereits gespendet hatte.
Resigniert hatte er schon lange, auch mit seiner Einsamkeit hatte er sich bereits abgefunden. Unterhalb der Woche verschaffte ihm das belanglose Flimmern des Fernsehens das Gefühl einer zumindest rudimentären sozialen Anbindung. Aber am Wochenende wollte er etwas erleben. Er klappte den Kragen seiner Lederjacke provokant nach oben, um etwas gefährlicher und draufgängerischer zu wirken, als er ohnehin schon sein wollte.
"Man kann ja nie wissen" grummelte er in seinen Drei-Tage Bart, "vielleicht treffe ich ja heute die Richtige oder es passiert sonst irgendwie was", insgeheim hatte er die Hoffnung schon seit über 10 Jahren aufgegeben. Das Deo, welches die Dusche ersetzen sollte, versagte schon nach kürzester Zeit den Dienst. Ein männlicher Zug aus seinem Flachmann tröstete ihn über die aufkeimende Melancholie hinweg, die einzige Frucht, die in seiner sozialen Wüste wuchs. Er fühlte wenig. (und dieses Wenige war nicht mal besonders angenehm.)
Mit gekünstleter Lässigkeit steckte er sich eine Zigarette an und trottete zur nahegelegenen U-Bahn-Station. Den beginnenden, leichten Nieselregen begrüßte er mit einem beifläufigen Knurren, die Scheinwerfer der passierenden Autos zogen wie durch Milchglasfenster an seiner Netzhaut vorbei.
Dass er auf weniger als fünfhundert Metern an etwa 23 hightech Videoüberwachungskammeras vorbei ging, welche jede seiner Bewegungen detailgenau registierten, tangierte ihn normalerweise nicht. Diesmal jedoch schienen die Kameras eine viel bedrohliche Präsenz zu haben, in seine persönliche Sphäre einzudringen. Es schien ihm , als habe man sie für ihn persönlich installiert, es war ihm ein großes Unbehangen, einfach an ihnen vorbeizugehen.
Die 15 Minuten Wartezeit für die nächste U-Bahn waren mal wieder typisch. Mürrisch zählte er die verbliebenen Zigaretten in der Schachtel. Die Minuten trieften zäh an ihm vorbei wie in Zeitlupe, schienen an ihm kleben zu bleiben und sich in die Länge zu ziehen, seine trägen Gedanken durchstreiften Vergangenheit und Zukunft. "Was für eine Zukunft?", fragte er sich zynisch. Er bemerkte, dass niemand da war, um seine Frage zu beantworten und tat so, als hätte er sie niemals gestellt. Er starrte ins Leere und versuchte, gar nichts zu denken.
Das Fauchen der anrollenden Bahn riß ihn aus seiner Trance. Roboterhaft betrat er das Fahrzeug und ließ seinen müden Körper auf ein abgesessenes Polster fallen. Zu seinem Erstaunen - und er war selten erstaunt - war er auch hier komplett alleine, er war der einzige Fahrgast im gesamten Abteil. "Ist heute schon Sonntag?", fragte er sich im Geiste und kam zum Ergebnis "nein". Letztlich war er froh darüber, die Anwesenheit anderer humanodier Wesen machte ihn wie bereits erwähnt irgendwie nervös. In der heutigen Zeit kann man ja schließlich nie genau wissen, welch zwielichtige Gestalten sich in dieser Gegend herumtrieben. In den Medien, die er höchstens zufällig und eher beiläufig konsumierte, hörte man fortwährend Schreckliches, besonders die Gruppen junger, südländischer Männer machten ihm Angst. Dabei würde er sich nicht unbedingt als politisch rechts bezeichnen, er hatte eigentlich kaum eine politische Meinung, wenn man ihn danach gefragt hätte, von ein paar diffusen Verschwörungstheorien und Ideologieversatzstücken abgesehen. So, wie es heutzutage eben üblich ist.
Er war irgendwann zu dem Ergebniss gekommen, dass alle Parteien und Gruppierungen eigentlich gegen ihn waren und hatte aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen - nicht dass seine Gedanken irgendwann einmal zu einer tieferen Ebene des Weltgeschehens vorgedrungen waren, sie verblieben stets auf dem seichten Geplätscher, dass ein Talkshowmaster noch gerade seinem derangierten Publikum zumuten kann, ohne dass die Einschaltquoten sinken.
Sein dumpfer Geist akzeptierte achselzuckend das leere Abteil, und verlor sich rasch wieder im trübsinnigen Sumpf seiner innerlichen Verwesung. Er dachte zurück an das Gespräch, das er vor Ewigkeiten mit seiner Exfreundin geführt hatte. Sie saßen in einem drittklassigen Restaurant, und sie stellte ihn bezüglich ihrer gemeinsamen Zukunft zur Rede, das war im übrigen das letzte nicht-geschäftliche Gespräch, das er mit einem weiblichen Vertreterin seiner Spezies geführt hatte. Als er reumütig bekannte, eine einzige Enttäuschung zu sein, kommentierte sie das mit "Ja, das bist du." und zog, ohne ihn noch einmal anzusehen, von dannen.
Die Abgeklärtheit und Kälte, mit der sie ihren formschönen Körper durch die Restauranttür manövrierte, hatte sich damals wie eine Dornenkrone in seinen Geist eingebrannt. Ein Bild, dass ihn vermutlich bis an das Ende seiner Tage plagen würde, es war das erste ,an das er nach dem Aufwachen zu denken pflegte.
Ruckartig hielt die U-Bahn im Tunnel. Ein penetranter Lautsprecherton beförderte ihn schlagartig in die Konsensrealität zurück. "Sehr geehrter Fahrgäste, aufgrund von andauernden Bauarbeiten können wir den gewohnten Weg nicht fortsetzen, sondern müssen eine Umleitung fahren, wir bitten Sie vielmals um Verständnis und wünschen Ihnen weiterhin eine ereignisvolle Nacht." Das Wort ereignisvoll hallte noch einige Sekunden durch das neuronale Netzwerk in Franks Schädel. Irgendwie kam ihm das alles doch seltsam vor.
Es folgte eine Fahrt durch die Dunkelheit der U-Bahnschächte, und Frank bemerkte das Müffeln seiner abgetragenen Sportschuhe. Er hatte nur dieses eine Paar, doch es war ihm trotzdem immer wieder peinlich, wenn er es bemerkte.
Einige Zeit später erreichten sie die Endstation. Frank stieg aus, auch an der Bahnstation konnte er keine Menschenseele ausmachen. Nichtmal eine verirrte Taube, ein paar Ratten, die um ein weggeworfenes Stück Pizza kämpften oder ein Obdachloser, der sich sein tristes Nachtlager eingerichtet hatte, waren zu sehn. Und wo war das Sicherheitspersonal? Ein wenig beunruhigt schlich Frank zur Spitze der Bahn. Auch der Fahrer war verschwunden. Frank war mutter-und-vaterseelenallein, an einer ihm völlig unbekannten U-Bahnstation. Einen Stationsnamen konnte er ebenfalls nirgendwo entdecken, was ihn trotz seiner charakterlich bedingten Apathie ein wenig stutzig machte. In welchem Teil der Stadt war er überhaupt? Er war sich nicht sicher. Außer dem bemühten Surren einer Niederdruckleuchtstoffröhre, die sein nervöses Unbehangen durch arythmisches Blinken noch unterstrich war es still. Zu still für Franks Geschmack. Um seine Nerven zu beruhigen, griff Frank nach der Zigarettenschachtel in seiner linken Jackentasche. Es beruhigte ihn, als seine tastenden Finger den kleinen Pappkarton berühtert. Er zückte die Packung und fischte einen Glimmstengel heraus. Gleichgültigkeit überkam ihn, oder war es doch die längst erloschen geglaubte Flamme der Rebellion, die ihn dazu brachte, trotz des Rauchverbotes die Kippe zum Mund zu führen und anzustecken? Er inhalierte tief, was ihn zumindest für einen Moment beruhigte.
Hier war er noch nie gewesen und er hatte keinen blassen Schimmer, wo er sich befand. Vorsichtig, um die unheimliche Stille nicht zu durchbrechen, huschte er zu der nächstgelegenen Rolltreppe, die natürlich wieder einmal ihren Dienst verweigerte. Franks Stimmung kippte von einer Sekunde auf die andere, und er stapfte grummelnd und jede Vorsicht außer acht lassend an die Oberfläche.
"Du fragst dich, wo du hier bist", war der Wortlaut eines Graffitis, an dem er vorbeilief. Es stimmte, und er begann sich erneut Unwohl zu fühlen, es wollte ihm nicht so zufällig erscheinen, wie der Rest seines rationalen Verstandes es gerne bewertet hätte.
Oben angekommen, bemerkte er, dass die Straßen ebenfalls menschenleer waren, und es lag Etwas in der Luft, das sich durch sein Phlegma bohrte wie ein Speer aus Diamant, obgleich er es weder lokalisieren noch benennen konnte. Das hier war eine Gegend wie jede andere, nur leerer, verwahrlost. Die gleichen Häuser und Straßen wie überall in der Stadt, in jeder beliebigen Gegend. Nur war dies keine Gegend, die er kannte. Ein elektrisches Kribbeln überströmte ihn.
Da, wieder so eine verdammte Überwachungskamera.
Hat sie sich bewegt? Sie starrte ihn an, hatte ihn fokussiert. Sein bestes Stück reagierte vor Schrecken. Er hatte mal gelesen, dass Todeskandidaten oft vor Angst eine Erektion bekamen. Sein Schwanz war bretthart, aber seine Knie fühlten sich an wie Aspik.
Er widerstand dem Drang, einfach loszulaufen. Er begann in irgendeine Richtung zu gehen, seine Schritte wurden von der Kamera verfolgt. Er meinte, das Surren der Elektronik zu hören.
Hier und dort erstrahlte das penetrante Licht einer Leuchtreklame, die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschunden, Menschen waren immer noch keine zu sehen. Oder zu hören. Nicht einmal ein Auto fuhr an ihm vorbei. Keine Vögel. Nur das Echo seiner eigenen Schritte. Er beobachtete seine mühevoll unterdrückte Panik, obgleich ihm die Irrationalität seines Fluchtreflexes in Erstaunen versetzte. War es ein Horrortrip, der durch seinen regen Amphedauerkonsum ausgelöst wurde? Klassische Paranoia? Zur Beantwortung dieser Frage setzte seine Nebenniere einen zusätzlichen Schub Adrenalin in die Blutbahn frei. Sein Bio-Überlebens-Schaltkreis wurde sofort aktiviert, was sich in seinem Bewusstsein durch den den Gedanken, einfach nach hause zu fahren und den Abend bei einem billigen Actionfilm mit möglichst authentischer und reichlicher Darstellung von Gewalt zu verbringen, bemerkbar machte. Vermutlich hätte er dies sogar getan, wenn sein Blick nicht plötzlich von einem rotleuchtenden Schild mit der Aufschrift "Thud-Inn" wie hypnotisch angezogen worden wäre. Er hörte Geräusche aus dem inneren, und plötzlich schien dieser Ort Leben zu verheissen. Oder zumindest so etwas wie Normalität. Er kannte den Laden nicht, aber sein Bedürfnis, endlich Gesellschaft zu haben, selbst von schweigenden Unbekannten, und sein Wunsch, irgendwo Platz zu nehmen und seine miese Stimmung mit reichlich Ethanol zu bekämpfen, überwogen. "Bier werden sie da ja wohl noch ausschenken", sagte er zu sich selbst und betrat die Bar.
Er ließ seinen Blick durch die Lokalität schweifen, außer ihm und dem Barkeeper waren nur eine Hand voll Menschen hier. Von den Gesichtern, die er im schwachen Dämmerlicht erkennen konnte, kam ihm keines bekannt vor. Aber durch die dicken Rauchschwaden, welche in der Luft hingen, war ohnehin nicht allzu viel zu erkennen. Die Dunstglocke war allerdings ein sehr gutes Zeichen, denn sie signalisierte ihm, dass er eine der wenigen Lokale erwischt hatte, in denen das Rauchen noch gestattet war. Auf einen weiteren Gang vor die Tür legte er an diesem seltsamen Abend absolut keinen wert. Ansonsten war das Ambiente ziemlich trist. Ein langer und abgenutzter Tresen, mit einigen durchgesessenen Barhockern davor. Die Wand dahinter war mit verschmierten Spiegeln bedeckt, vor denen in einem staubigen Glasregal an ganzes Sammelsurium harter, aber nicht unbedingt edler Spirituosen aufgebaut war. Es gab noch sechs bis sieben weitere Tische und eine Ecke mit dunklen und siffigen Ledersofas, über denen ein 55 Zoll Flachbildschirm montiert war. Irgendein Fußballspiel wurde übertragen, ein übergewichtiger Mann hing in einem der Sessel und verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm wie hypnotisiert, während er literweise Bier in sich hinein kippte und händeweise Kartoffelchips verschlang.
Vor dem Eingang zur Toilette standen zwei Männer, einer trug einen langen Kunstledermantel und trotz der spärlichen Lichtverhältnisse eine Sonnenbrille. Er kramte in seiner Tasche, der ihm gegenüberstehende Mann sah ihn in einer Mischung aus Nervosität und Anspannung an. Frank war klar, dass er an dieser Stelle seinen Amphetaminvorrat bei Bedarf - und dieser würde sich vermutlich schnell einstellen - ohne größere Probleme auffüllen konnte. Die anderen Anwesenden wirkten ebenso apathisch und gewöhnlich wie er. Auch der Gummibaum der in einem Kübel in der Ecke stand und vermutlich seit mindestens fünf Wochen kein Wasser gesehen hatte, konnte die trostlose Atmosphäre nur schwerlich aufmuntern. Trotzdem, Frank war immerhin wieder unter Menschen, die Hintergrundrauschen beisteuerten.
In der hintersten Ecke standen einige altertümliche Spieleautomaten, die den Anschein erweckten, dass sie schon vor Jahren hätten ausrangiert werden müssen. Scheinbar funktionierten sie aber noch gut genung, um bereitwiller Kundschaft das sauerverdiente Geld aus der Tasche zu ziehen. Letztlich interessierte ihn das alles aber herzlich wenig. Sein einziges Interesse galt der möglichst zügigen Aufnahme von Hochprozentigem, in dessen Armen er diesen miesen Abend, der eine ebenfalls miese Woche krönte, vergessen wollte.
Mit einer für sein Naturell ungewohnten Zielstrebigkeit ging auf die Bar zu und ließ sich auf einen der Hocker fallen. Sein Blick fiel auf ein Detail, welches ihm bisher scheinbar entgangen war. Mitten zwischen den Schnapsflaschen war in der seltsame Schriftzug "Thud-Inn" zu erkennen, ein wahrhaft eigenartiger Name, mit dem er einfach nichts anfangen konnte. Der Barkeeper, der gerade noch geistesabwesend mit der eher symbolischen als effektiven Reinungung einiger Gläser beschäftigt war, sah zu ihm auf und blickte ihn aus trüben Augen an: "Ja?!"
"Einen doppelten Barcadi-Cola ohne Eis", grummelte Frank zurück. Als er endlich das Glas in den Händen hielt, setzte endlich eine leichte Entspannung ein. Zwei Drinks später hatte er sogar sein Unbehangen und die seltsame Anreise vergessen. Er genoss die Wirkung des Alkohols, welches alle höheren Funktionen seines Nervensystems lahmlegte, rauchte eine Zigarrette nach der anderen und lauschte gedankenverloren der Musik. Aus der mäßig qualitativen Soundanlage erklang "Knocking on Heaven's Door" in der Version von Guns and Roses, einer seiner Lieblingssongs.
"Hast du mal Feuer für mich?", riss ihn eine sanfte und gleichzeitig wundersam eindringliche Frauenstimme aus seinem Rausch. Eine solche Stimme hatte er noch nie gehört - klar, Frauen machten Frank immer nervös, aber diese schien jede Zelle seines Körpers, ja sogar jedes einzelne Atom zum Tanzen zu bringen. Pure Ekstase durchzuckte sein gesamtes Wesen. Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sein Sprachzentrum wieder in der Lage war, rudimentäre Sätze zu produzieren. Etwa die gleiche subjektive Zeitspanne benötigte es, um die entsprechenden Signale an seinen Artikulationsapparat zu senden und dort in Laute umzuwandeln. "Hey, hast du Feuer?", erklang die Frauenstimme erneut. Diesmal schien sie direkt aus dem Zentrum seines Schädels zu kommen. "Habe ich jetzt entgültig den Verstand verloren?" Frank war wie paralysiert, unter größter Anstrengung gelang es ihm, seinen Kopf nach links zu drehen, sein verkratztes Benzinfeuerzeug aus der Tasche seiner Jeans zu kramen und mit einem schlichten: "Ja, hier!" zu antworten.
Sein Blick fiel auf eine zierliche Lady mit wallendem roten Haar, das sich sanft und wie von Geisterhand zu bewegen schien. Sie trug einen weißen Peplos mit einer golden Borte, die von Wirbeln, die entfernt an Galaxien erinnerten, gesäumt war. Um ihren Hals hing an einer goldenen Kette ein ebenfalls goldenes Amulett in Form eines Apfels. Ihre Gesichtszüge waren makellos wie die einer Elfe, und ihr ganzer Körper schien von einer Aura aus flimmernder Energie in allen Farben des Regenbogens umgeben. Auf ihrem Oberarm befand sich eine Tättowierung in Form eines achtstrahliger Sterns, der von selbst zu leuchten schien. Der Fluss der Zeit war versiegt, und um Frank und die Lady herum wirkte alles wie erstarrt. Bevor Frank der mysteriösen Dame in die Augen sah, zündete mit der geistlosen Sicherheit eines Roboters er ihre Zigarette an. "Danke, Frank", sagte die Stimme. Dann trafen sich ihre Blicke und er blickte ihr direkt in die Augen. Es schien ihm, als würde sein Geist mit Überlichtgeschwindigkeit durch eine Myriaden von Universen gleichzeitig rasen.
Das Raumzeitkontinuum zerbarst in einem endlosen Strudel aus Fraktalen in psychedelischen Farben.
Diese Intensität war einfach zuviel für ihn.
Er hielt ihrem Blick nicht länger stand und schaute zu Boden. Er wusste nicht, was für einem Wesen er gegenüber saß, ein Mensch war es defintiv nicht und an Feen, Engel oder gar Götter glaubte er nicht. Er musste sich sammeln, brauchte Abstand - ruckartig und wortlos sprang er auf und während hinter ihm der Barhocker umfiel, suchte er fieberhaft das Klo, um noch eine Line zu ziehen. Aber eigentlich wollte er sich wiedereinmal vor sich selbst und der Welt verkriechen. Die Augen der anderen, das war die Hölle. Seine persönliche Hölle.
Er hastete den Flur zum Klo herunter und schloß sich in die Kabine ein. Mit zittriger Hand kramte er seinen Beutel hervor und bereitete mit der Kreditkarte eine Line auf dem Deckelrand. Sie war viel zu groß. Egal. Er rollte einen Fünf-Euro-Schein und zog sich das Dreckszeug mit einem einzigen, kräftigen Zug in die Nase. Die Intensität der hohen Dosis veranlaßte ihn dazu, mit dem Hinterkopf gegen die Klotür zu knallen.
Sein Kabinennachbar stieß ein lautes "Hey!" aus, Frank murmelte eine Entschuldigung und torkelte ins Freie.
Er fand den Weg zurück an die Bar, doch die Schönheit war verschwunden, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Am Platz vor dem immer noch umgekippten Barhocker lag eine Sonnenbrille mit orangenen Gläsern, die purpur schillerten, daneben eine handgeschriebene Notiz: "FNORD". Frank drehte sie um. Mehr stand da nicht. Was sollte das heißen? Der Ober grummelte: "Dein Drink ist bezahlt."
Frank lies seinen Blick durch die Lokalität schweifen, es war immer noch das gleiche Häuflein Menschen hier.
Der Eindruck der Ungewohntheit wollte auch nicht weichen, als er die Brille aufsetzte. Doch dies war eine solche Untertreibung, dass es eine Lüge war.
Denn in Wahrheit traf in der Schlag. Die Wesen die er in der Kneipe sah, waren keine Menschen.
Er riß sich die Brille vom Kopf, und alles war wie vorher. Er setzte sie wieder auf und er konnte sie erneut sehen.
Die Dämonen.
Es gibt offensichtliches Wissen. Zum Beispiel kenne ich meinen Namen. Es gibt bekannte Unbekannte. Zum Beispiel weiß Frank, dass er den Tag seines Todes nicht kennt. Und es gibt unbekannte Unbekannte. Zum Beispiel diese Dämonen, die Frank durch diese Gläser hindurch sah. Er wusste nicht, dass er nichts von Dämonen wusste, bevor er die Brille aufzog. Und: Es gibt unbekanntes Wissen. Das ist unser Unterbewusstsein, das Informationen speichert, von denen wir nicht wissen, dass wir sie einsehen können. Wenn man sich diese Dämonen anschaut, hatte er plötzlich das Gefühl, dass er sie im Gegensatz zu der vorherigen Behauptung, dass sie unbekannte Unbekannte sind, wirklich kannte!
Der fette Typ vor dem Fernseher war nun mit Bierflasche und Fernbedienung verwachsen - ja, der ganze Sessel schien zu seinem Körper gehören, die Rückenlehne dehnte sich unter Atemzügen und die Sesselfüße bewegten sich! Auf seiner Feinrippbrust schienen Chipskrümmel zu wachsen. Er nannte das Wesen "Bobat", Dämon der Trägheit.
Noch grausiger war die Gestalt im Fernsehen, ein Hybrid aus Model, Maus, Hyäne und etwas, was nicht von dieser Welt war. Die Vorderarme hatten eine bizarre Struktur, sie ragten trotz des aufrechten Ganges des humanoiden Wesens bis auf den Boden und verjüngten sich wie Speere. Er nannte das Wesen "Ickybatch", Dämon der medialen Verblödung.
Bobat und Ickybatch schienen in einer unheilvolleren Symbiose vereint, und Frank meinte nicht, dass es noch schlimmer kommen könnte, als er bemerkte, dass sich eine Art Pfütze im Raum auszubreitete, die von der Toilette her zu kommen schien.
Es war ein widerwärtiger, schleimiger und amorpher Haufen, in dem unzählige Spritzen, mit verschiedensten Drogen gefüllt, steckten, auch brennende Zigaretten und Crackpfeifen. Mit seinen sieben Mündern fraß er alles, was er in seine schmierigen Tentakelarme bekam, egal ob es Zigarettenstummel, Glassplitter, Essensreste oder anderer Dreck war, der am Boden der Kneipe lag. Mit seinen sieben Nasenlöchern zog er ununterbrochen jegliches pulverförmige, dem Menschen bekannte und unbekannte Rauschgift und inhalierte abartige Schnüffelstoffe und Lösungsmittel. Doch er war nicht so lethargisch wie Bobat, denn in seinen Augen brannte das kranke und besessene Feuer eines Süchtigen, und er bewegte sich zielstrebig auf den Platz zu, auf dem Frank saß. Sein einziger Trieb schien „Mehr, mehr, mehr und immer mehr!“ zu sein, sein Körper war mit Geschwüren und Flecken übersäht, welche entfernt an Dollar-, Yen- und Eurozeichen erinnerten. An jedem der sieben Tentakel trug er einen Ehering, außer an einem. Frank wusste plötzlich: "Wer von Depenthanos, auch Schlund genannt, in Besitz genommen wird, ist ein absoluter Sklave, der vom Suchtdruck getrieben ist und bereit, um diesen zu unterbinden, alles Erdenkliche zutun. Depenthanos ist extrem gefährlich und führt seine Opfer mal langsamer, mal schneller, aber letztendlich doch sehr zielstreibig ins Jenseits, da er schier unersättlich ist."
Frank sprang vom Barhocker auf. Fliehen oder kämpfen, was sollte er tun? Eine weitere Gestalt stand neben ihm, die sich nicht zu verändern schien, ob Frank jetzt durch die Brille sah oder nicht. Ein Mann mittleren Alters, dessen Augen vor stiller Weisheit zu elcuhten schienen, zog genüßlich an seiner Pfeife. Ihn schien das alles nicht zu betreffen. Dichte Rauchschwaden umhüllten ihn, und der süßliche Duft von Mary Jane lag in der Luft.Er trug eine Art Marineuniform, auf der in großen Lettern der Name "Cpt. Bucky Saia" prangte. Er drehte sich zu Frank und sah ihn für einen Moment warnend an. Aus der seltsamen Eisenmaske, die die untere Hälfte seines Gesischtes bedeckte und die entfernt an einen blanke, menschliche Kiefer erinnerte, erklagen die Worte: "Wenn ich du wär, würd' ich laufen, Bürschchen." Dann begann er zu lachen.
Diese Idee leuchtete Frank unverzüglich ein, er lief los, er lief so schnell, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war. Aber Depenthanos hatte ihn bemerkt und nahm entschlossen die Verfolgung auf. Frank riss in vollem Lauf die Tür auf - und machte sich, ohne stehenzubleiben in die Hose. Vor der Kneipe stand ihm ein riesiges Ungetüm gegenüber, der Wächter mit den tausend Augen, genau jene Bestie, die ihn die vergangenen Wochen etliche Stunden Schlaf gekostet und ihm den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Es war dasselbe Ungetüm wie in seinen Träumen, übersäht mit Augen und Kameras und Dingen, die beides waren. Augäpfel, Facettenaugen, Linsen und Sensoren starrten ihn an, und jeder Blick war so scharf und durchdringend wie ein Dolch. Fast wäre er vor lauter Angst im Lauf erstarrt, doch andere, ähnlich urtümliche Instinkte trieben ihn weiter und versuchten, ihn zu retten.
In höchster Not setzte Frank zu einer Flugrolle an, die er in seiner Jugend mal im Judokurs gelernt hat und überraschenderweise noch immer zu beherrschen schien. Er glitt fast elegant zwischen den Beinen des Wächters hindurch, dicht gefolgt von Depenthanos, der sich in blinder Wut auf den Wächter stürzte.
Der Kampf setzte Energien frei, welche die Raumzeit verzerrten. Eine gewaltige, kreischende Stille, wie er sie zuvor noch nie gehört hatte, zerfetzte beinahe sein Trommelfell. Die Erde bebte, es war gleichzeitig heiß und kalt und ein tiefschwarzes Licht, oder was auch immer es war, beleuchtete das Geschehen, während Frank einen gleißend hellen Schatten warf."Selbst die Schatten reflektieren meinen Zorn" erklang es irgendwo in der Ferne.
Frank riss sich unter größter Anstrengung von dem grotesken Schauspiel los und rannte durch die dunklen Straßen, bis seine Lunge brannte, glühende Nadeln ihn in die Seite zu stechen schienen und er kurz vor einem Kollaps stand. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht, auch hatte er es nicht gewagt, sich während seiner Flucht auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Nun aber riskierte er einen Blick. Er konnte nichts Bedrohliches erkennen. Das einzige, was er hörte waren sein eigener Herzschlag und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Einen Moment starrte er wie betäubt in das Dunkel der Nacht: "Was zur Hölle war das gerade?" erklang die Stimme seiner Ratio in seinem Bewusstsein. "Die Kameras, das Ding kann mich vermutlich immer noch sehen!", schrie sein Überlebensintinkt auf. Wieder aktivierte sein Biocomputer das Fluchtsystem. Er musste sich irgendwo verstecken - zum Weglaufen war er zu erschöpft.
Er sah sich kurz um und wurde glücklicherweise fündig. Es gibt wenige Situationen, in denen ein öffentliches WC wie ein sicherer Hafen erscheint, diese war eine davon! Er betrat den gekachelten Raum und vergewisserte sich, dass er die Türe hinter sich abgeschlossen hatte. Der beißende Geruch von altem Urin stieg ihm in die Nase, aber immerhin sollte er hier vor digitalen Beobachtern geschützt sein. Zumindest hoffte er dies inständig. Er steuerte auf das Waschbecken zu, nahm die Brille ab und warf sich einige Hände des kalten Leitungswassers ins Gesicht. Er verschnaufte einen Moment. Dann blicke er auf, schmierigen Spiegel. "FNORD" stand da geschrieben. Seine Knie wurden weich wie Pudding, trotzdem setzte er die Brille erneut auf und blickte seinem Spiegelbild direkt in die Augen. Aber da war kein Spiegelbild. Er sah nur noch die Sonnenbrille. Keinen Körper, kein WC, einzig und allein diese verfluchte Sonnenbrille. Ein Spiegel der sich selbst in einem anderen Spiegel betrachtete? Eine Endlosschleife? Die Trennung zwischen Frank und seiner Umwelt kolabierte aprubt, sofern sie überhaupt jemals wirklich existiert hatte. Er war die Dämonen - die Dämonen waren er.
Frank reagierte wie jedes halbwegs intelligente Wesen es in einer solchen Situation tun würde mit einem unkontrollierten Anfall von kosmischem Lachen. Sein Lachen verschmolz orgiastisch mit dem Lachen der mysteriösen Lady aus der Bar. Dem Lachen der Eris. Kurz darauf erlangte er Erleuchtung.
Mit discordischen Grüßen der Aktion 23,
Bruder Kr!S-der-hocherhaben-starkerleuchtet-und-leichtbenebelte & Fehlgeleitet & seine quasarische Sphärizität, der Bwana Honolulu, Hausmeister der Aktion 23
HEIL ERIS!! ALLES HEIL DISCORDIA!!!