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Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 9. Januar 2011, 22:51
von Tarvoc
Hier ist mal 'ne Materialsammlung von kritischen Texten von mir. Einiges stammt noch aus dem Schiff. Kann noch erweitert werden...

Technologische Singularität

Unsere Gesellschaft, heißt es, nähert sich dem Punkt der Technologischen Singularität. Es handelt sich dabei um denjeningen Punkt, an dem die technologische und soziale Entwicklung der Gesellschaft sich so sehr beschleunigt hat, dass ein nicht genetisch oder technologisch verbessertes Gehirn sie nicht mehr erfassen kann. Gleichzeitig sind immer noch große Teile der Bevölkerung von jeder höheren Technologie, von jeder echten gesellschaftlichen Beteiligung und insbesondere von der Planung der Produktion ausgeschlossen. Sollte dieser Zustand nicht bis zum Erreichen der Technologischen Singularität überwunden werden, könnte eine Situation eintreten, in der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in der Lage sein wird, die Technologien zu nutzen, die es ihnen erlauben, die Entwicklung der Gesellschaft auch nur zu verstehen. Es wäre nicht wie in dem Film GATTACA. Der Rest der Menschen wäre nicht zu einer neuen Arbeiterklasse degradiert, die eben niedere Arbeiten verrichtet, in den schlechteren Stadtteilen wohnt und gelegentlich protestiert, sondern er wäre einfach völlig aus der Menschheit ausgeschlossen. (Ein Prozess, der bereits begonnen hat.) Unfähig, noch wirklich zu verstehen, was in der Welt und in der Gesellschaft vor sich geht und was mit ihnen gemacht wird, wären sie auf in jeder Hinsicht der völligen Willkür der neuen "Herren" unterworfene reine Biomasse reduziert. Sie wären keine Befehlsempfänger, sondern Objekte, mit denen verfahren würde, wie es gerade passt. Viele Menschen könnten auf das reduziert werden, was Nutztiere heute skandalöserweise bereits sind.

Francis Fukuyama hatte um das Jahr 2002 im Angesicht der aufkommenden Gentechnik seine These vom "Ende der Geschichte" (partiell) revidiert. Diese These, die er kurz nach dem Zerfall des Ostblocks formuliert hatte, sagt bekanntlich aus, dass nach dem Sieg über Faschismus und Kommunismus der politische Rahmen von Kapitalismus und liberaler Demokratie nicht nur der einzige noch übriggebliebene Rahmen sei, sondern auch derjenige, in dem alle weiteren politischen und historischen Probleme sich lösen ließen. Die These sagte also nicht, dass es jetzt keine solchen Probleme mehr gäbe, sondern nur, dass die Menschheit endlich den formalen Rahmen gefunden habe, innerhalb dessen sich diese Probleme letztlich lösen oder [...] effektiv behandeln ließen.

Fukuyama hatte ganz Recht, im Angesicht der Gentechnik diese These zurückzunehmen. Tatsächlich ist es gerade der bürgerlich-demokratische Liberalismus, der auf die dystopische Vision, die ich geschildert habe, gar keine Antwort hat, während ironischerweise ausgerechnet die beiden großen Gegner des Liberalismus aus dem 20. Jahrhundert, also Faschismus einerseits und Sozialismus bzw. Marxismus andererseits, beide mit Antworten zu dieser Frage aufwarten können, allerdings mit zwei einander genau entgegengesetzten Antworten. Der Faschismus wird natürlich die Aussicht auf eine Spaltung der Menschheit in eine kleine Gruppe auserwählter Übermenschen einerseits und den auf bloß verwertbare Biomasse reduzierten Rest der Menschheit andererseits befürworten und gleichzeitig diejenigen, die sich ihm anschließen, dazu anhalten, dafür zu arbeiten, selbst in Zukunft zur ersten Gruppe zu gehören, d.h. sich jetzt schon möglichst viele und relevante Produktionsmittel und Produktivkräfte privat und exklusiv anzueignen und andere auszuschließen. [...] Der Sozialismus hingegen wird genau umgekehrt den universalistischen Gedanken einer vereinten, gleichen und freien Menschheit weiter aufrecht erhalten und auf der Inklusion möglichst aller Menschen in die gesellschaftlichen Prozesse und insbesondere die Planung des Produktionsprozesses, sowie auf der demokratischen Regulierung und schließlich Planung der Wirtschaft zu dem Zweck, alle Menschen möglichst gleichermaßen für die neuen gesellschaftlichen Realitäten fit zu machen, bestehen. Leute, die hier einzuordnen sind, sind u.A. Dietmar Dath und Slavoj Žižek. Der Liberalismus hingegen hat gar keine Antwort: Sein Motto der formalen rechtlichen und politischen Gleichheit bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Ungleichheit wird im Angesicht der Möglichkeit einer sogar biologischen und kognitiven Auseinanderdivision der Menschheit immer mehr zur Farce (obwohl auch die sozialistische Seite weiterhin auf Parlamentarismus, Demokratie, Menschenrechten und formaler rechtlicher und politischer Gleichheit bestehen sollte). Liberale werden immer mehr Züge entweder der einen oder der anderen Seite entwickeln, bis sich schließlich das Monopol des liberalen Lagers wieder vollständig in ein reaktionäres faschistisches und ein revolutionäres sozialistisches Lager aufgespalten haben wird. Auf der symbolischen Ebene hat diese Entwicklung bereits begonnen: Barack Obama kokettiert (nicht ganz zu Unrecht) mit sozialistischen Symbolen und Slogans, während die rechtsradikalen Fundamentalisten aus ihren elitären und exklusivistischen biopolitischen Ansichten nun gar keinen Hehl mehr machen, wie man an ihrer Polemik gegen Obamas Gesundheitsreform gut sehen kann. [...]

Leninismus vs. Tradeunionismus

Der Ausdruck Tradeunionismus bezeichnet eine bestimmte Art der Ausrichtung von Arbeiterparteien, bei der die Partei sich selbst nur als parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften versteht. Sie macht daher keine revolutionäre, sondern lediglich eine reformistische Politik, die die Gewerkschaften in ihrer Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern innerhalb der kapitalistischen Ordnung stärken soll. Lenin sah im Tradeunionismus eines der Haupt-Hindernisse für die Herausbildung einer revolutionären Arbeiterklasse in den westlichen Ländern. Nach Lenins Vorstellung war die Arbeiterklasse aus eigener Kraft sogar nur zum Tradeunionismus fähig, weswegen eine avantgarde Partei aus überzeugten Kommunisten die Arbeiterklasse sozusagen "von außen" organisieren müsse. Einerseits trug diese Überzeugung Lenins viel zur Herausbildung der Sowjetdiktatur und seiner Unterordnung der Gewerkschaften unter die Parteidiktatur bei und muss daher entsprechend kritisiert werden. Andererseits ist das Problem des Tradeunionismus dennoch sehr real, wie auch die gegenwärtige Lage der Gesellschaft zeigt. Wobei heute (wie man am besten am englischen New Labour sehen kann) oft genug sogar noch nicht mal Tradeunionismus betrieben wird, sondern einfach nur noch neoliberale Politik, was zeigt, dass Parteien, die sich darauf beschränken, einfach nur Gewerkschaftsinteressen zu vertreten, früher oder später einfach zu integrierten Bestandteilen der bestehenden Ordnung und Exekutoren des sogenannten "Sachzwangs" werden (oder zumindest stark Gefahr laufen, dazu zu werden). Es müsste hier eine Form von Politik gefunden werden, die sowohl die Falle des Leninismus als auch die des tradeunionistischen Reformismus vermeidet.

Im Grunde genommen haben wir es mit zwei gegensätzlichen Extremen zu tun. Im Falle des Tradeunionismus wird die Partei den Gewerkschaftsinteressen untergeordnet und verbleibt damit innerhalb der bestehenden Verhältnisse. Im Falle des Leninismus wird die Gewerkschaftsorganisationen der Parteibürokratie untergeordnet, womit der Weg geebnet wird für die Zementierung der Diktatur - die sich letztendlich als Diktatur über das Proletariat erweist. Was hier also benötigt wird, ist eine nichtreduktionistische Politik: Es muss gesehen werden, dass Gewerkschaften und Parteien zwei sehr unterschiedliche Arten von Macht verkörpern, die gegebenenfalls sogar zu gegenseitigen Korrekturen fähig sein könnten. Gewerkschaftsarbeit wirkt ja, auch wenn sie bewusstseinsmäßig innerhalb der bestehenden Verhältnisse verbleibt, zumindest insofern dem allgemeinen Trend entgegen, als sie die Löhne und Lohnnebenkosten in die Höhe treibt (was für den einzelnen Arbeiter an und für sich natürlich schon eine Verbesserung seiner Situation bedeutet). Wallerstein deutet an, dass, wenn wirklich auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Teilen des Weltsystems effektive gewerkschaftliche Arbeit betrieben würde, also den Arbeitern auf allen Ebenen immer größere Teile des Mehrwerts zufielen, daraus eine Eigendynamik entstehen könnte, an deren Ende das Kapital nur noch von sich selbst zehren können würde. Wallerstein bestreitet damit natürlich nicht, dass auch die Parteiform von Relevanz sein könnten. Staatliche Macht ist zwar nicht alles, aber nicht unwichtig. Aber auch andere Organisationsformen könnten in gewissen Situationen nützlich sein. Was wir von den Fehlschlägen des Leninismus und des Tradeunionismus lernen können, ist, dass jedes Primat einer bestimmten Organisationsform tödliche Einseitigkeit bedeutet.

Natürlich sind bei all dem noch nicht die anderen Schauplätze berücksichtigt, die sich heute bereits am Horizont abzeichnen. Ich habe in II 8 a bereits angedeutet, dass die Arbeiterklasse heute zwar am ehesten systemverändernde Bewegungen hervorbringen könnte, jedoch vielleicht nicht mehr die Position des singulären Allgemeinen einnimmt, also desjenigen schwächsten Teils der Gesellschaft, mit dessen Emanzipation die Emanzipation der gesamten Gesellschaft auf dem Spiel steht. Das mag auch einer der Gründe sein, warum trotz der Möglichkeiten der Arbeiterklasse zur Formung systemverändernder Bewegungen diese de Fakto ausbleiben. Insofern sich eine neue Klasse (oder Nicht-Klasse) von völlig aus dem Produktionsprozess Ausgeschlossenen herausbildet, die die Veränderung am ehesten zu erhoffen hätte und doch am wenigsten aus eigener Kraft zu ihr fähig ist, stellt sich die Frage nach der Organisation unter Umständen ganz neu, und insofern diese Klasse zahlenmäßig zunimmt, kann die marxistische Theorie es sich nicht mehr leisten, sie als "reaktionäres, im besten Falle unpolitisches Lumpenproletariat" zu deklassieren. Vielleicht muss Lenins Antwort auf den Tradeunionismus vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Nicht weil die Arbeiterklasse sich nicht unmittelbar selbst organisieren kann, muss sie von außen organisiert werden, sondern weil sie sich nicht unmittelbar selbst organisieren kann, muss sie etwas außerhalb ihrer selbst organisieren, und eben dieser Prozess bringt sozusagen als Nebenprodukt ihre eigene Organisation hervor. Nicht die Arbeiterklasse muss von einer äußeren Kraft wie etwa einer Partei oder einer Avantgarde organisiert werden, sondern die Arbeiterklasse selbst muss die äußere Kraft werden, die jene neue "Klasse der Klassenlosen", und in diesem Prozess auch sich selbst, zu einer neuen revolutionären Kraft organisiert. Ich habe das Gefühl, dass es sich dabei um jenes Gespenst handeln könnte, das seit zirka einem Jahrzehnt Europa und die ganze Welt unter dem Namen "Neomarxismus" heimsucht.

Die Frage der Entfremdung

Eine marxistische Standardkritik (bzw. ein Aspekt von ihr) an der Entfremdung des (Industrie-)Arbeiters im industriellen Arbeitsprozess lautet ungefähr folgendermaßen:
Der Arbeiter ist ökonomisch gezwungen, an einer Maschine zu arbeiten, die ihm nicht gehört, mit Material, dessen Herkunft er nicht kennt, das Produkt wird ihm entfremdet, etc. und daher wird er gewissermaßen auf ein bloßes Maschinenteil reduziert, was man Entfremdung nennt.

Aber kann man das so sagen? Impliziert denn nicht der Begriff der Entfremdung gerade, dass das Lohnarbeitsverhältnis (mit den eben beschriebenen Phänomenen) die Identifikation des Arbeiters mit den eigenen Arbeitsbedingungen gerade verhindert? Man ist ja nicht insofern entfremdet, als man sich identifiziert, sondern insofern, als man es nicht vermag.

Möglicherweise klärt sich die Frage durch eine weitere Verschiebung: Was ist, wenn der sprichwörtliche Status des Arbeiters als bloße "Verlängerung der Maschine" ein doppelter ist? Nicht nur der Arbeiter wird zum "Maschinenteil", zur "Verlängerung der Maschine", und deshalb ist er als Individuum entfremdet, sondern auch die Entfremdung des Arbeiters von der Maschine ist bereits eine "Verlängerung" der Entfremdung der Maschine von sich selbst.

Im Kapitalismus ist die Maschine Privateigentum, d.h. ihr eigenes Funktionieren wird im Allgemeinen nur als Mittel in Zweck-Mittel-Relationen zum Zwecke der Mehrwertproduktion gedacht und nicht z.B. als Selbstzweck oder sogar noch irgendwie anders. Die Maschine selbst ist somit bereits von diesen anderen ihr innewohnenden Möglichkeiten, sie und ihre Tätigkeit zu verstehen und zu verwenden, entfremdet, und die Entfremdung des Arbeiters von seinen Arbeitsbedingungen und den dazu gehörenden Maschinen lässt sich verstehen als "Verlängerung" dieser Entfremdung der Maschine von sich selbst.

Deshalb ist die marxistische Redeweise von den "Produktionsmitteln" und ihrer Aneignung durch das Proletariat streng genommen noch bürgerlich-idealistisch. Reduziert auf den Status als "Produktionsmittel" treten Maschinen überhaupt erst aufgrund der Logik des Kapitalismus auf, und wenn es nicht gelingt, die Tätigkeit der Maschine (und damit auch unsere Beziehung zu ihr) anders zu verstehen und zu handhaben denn als bloße Funktion, also als bloßes Mittel zum Zweck, wird auch die "Aneignung der Produktionsmittel durch das Proletariat" nur Stückwerk bleiben, indem einfach nur der Kapitalist ausgetauscht wird. Im schlimmsten Falle übernehmen die Organisationen und (selbsternannten) Repräsentanten des Proletariats selbst die Rolle des ausbeutenden Kapitalisten, wie es etwa im Stalinismus der Fall war.

Wir müssen die Maschinen befreien, damit wir uns selbst befreien können.

Kurzzusammenfassung von Braudels "Dynamik des Kapitalismus"

Braudel interessiert sich dafür, wie Händler im Frühkapitalismus gezielt Transparenz abbauten bzw. Intransparenz schafften, um gezielt Preise in ihrem Sinne zu beeinflussen. Braudels Argument ist, dass im Feudalismus und auch noch im Frühkapitalismus freie Bauern ihre Produkte oft selbst auf die Märkte trugen und dort tauschten oder verkauften, und dadurch einen direkten Überblick über die Preisbildung an den Märkten hatten. Im Frühkapitalismus begannen dann Händler, gewissermaßen als Mittelsmänner zu wirken: Sie gingen zu den Bauernhöfen, kauften dort die Produkte, und verkauften sie dann für sich selbst gewinnbringend am Markt (und damit einher ging natürlich die Zunahme der Wichtigkeit allgemeiner Tauschäquivalente, also Geld, gegenüber direktem Warentausch). Für die Bauern hatte das zunächst augenscheinlich Vorteile: Sie mussten sich nicht mehr selbst auf den Weg zum Markt machen und konnten die Zeit aufwenden, um mehr zu produzieren oder etwas anderes zu tun. Aber natürlich verloren sie mehr und mehr die Übersicht über die Preisbildung am Markt, wodurch die Händler immer mehr Gewinne erzielten. Irgendwann begannen diese dann, Manufakturen zu errichten und vom Land Söhne, die nicht in der Erbfolge standen, als Arbeiter abzuwerben. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Braudels Punkt ist also, dass die "unsichtbare Hand des Marktes", von der die Liberalen sprechen, nicht an sich selbst unsichtbar ist, sondern vielmehr gezielt für einen Teil der Bevölkerung unsichtbar gemacht wurde und immer noch wird, wovon ein anderer Teil der Bevölkerung profitiert.

Christlicher Universalismus?

Gibt es etwas, das den paulinisch-christlichen Universalismus bereits strukturell von jedem beliebigen universellen Herrschaftsanspruch unterscheidet? Kritiker des christlichen Universalismus werfen Paulus manchmal vor, durch die Behauptung universeller Brüderlichkeit (alle Menschen sind Kinder Gottes, etc.) jedem, der nicht an der chrislichen Brüderlichkeit teilhaben und kein Kind Gottes sein will, die Menschlichkeit selbst abzusprechen. Dagegen weist Slavoj Žižek (vgl. ders., Parallaxe) darauf hin, dass das Christentum ursprünglic nicht die Position eines neuen Ausschlusses, sondern die Position der Ausgeschlossenen selbst artikulierte (da es hauptsächlich von den Armen und Ausgestoßenen des römischen Reiches vertreten wurde). Die Spaltung zwischen Christ und Nichtchrist ist auch nicht einfach eine Spaltung zwischen Individuen mit einem universellen Anspruch und Individuen, die sich diesem Anspruch entziehen, sondern spaltet jedes einzelne Individuum im Inneren in die universelle Form des christlichen Glaubens und seine partikulären Inhalte, die von Person zu Person verschieden sein können und im Modus des Als-ob-nicht zu behandeln sind (1. Kor. 7, 25-31, vgl. Agamben, Die Zeit die bleibt). Deshalb kann die Konversion eines Menschen zum Christentum zu einem Engagement für Arme und Ausgestoßene führen, obwohl nach christlicher Überzeugung gute Werke irrelevant für das eigene Seelenheil sind, da nur der Glaube an Christus errettet.

Das Christentum entwickelte sich vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der fast im heutigen Sinne als postmodern und multikulturalistisch bezeichnet werden kann: dem des römischen Imperiums, das sich (ähnlich wie der Westen heute) langsam von der Demokratie in Richtung Autoritarismus entwickelte, in dem jedoch verschiedene Kulturen und Identitäten nebeneinander und miteinander existierten. Aber natürlich war das Reich (wie der postmoderne, multikulturalistische globale Kapitalismus auch) kein neutraler Behälter, sondern durchzogen von (mindestens) drei isomorphen universellen Spaltungen, die jede partikulare Identität von innen aufsprengten: auf juristischer Ebene der Spaltung zwischen römischem Bürger und Nichtbürger, auf (geo-)politischer Ebene zwischen Zentrum und Peripherie (nebst einer langsam hinzutretenden Semiperipherie, vergleichbar mit der heutigen "zweiten Welt", Tigerstaaten und dem ehemaligen Ostblock, und einem kulturellen zweiten Semizentrum in Griechenland, vergleichbar mit dem heutigen Europa im Verhältnis zu den USA), und auf der Ebene der materiellen Produktion (bzw. des Klassenkampfes) zwischen Freien und Sklaven. Vor diesem Hintergrund war das Christentum vor allem eine antisystemische Bewegung, der es um die Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse ging, sogar um ihre Umkehrung, denn der Sklave ist im Glauben frei, während der Freie zum Sklaven Christi und des Heiligen Geistes wird (1. Kor. 7, 22).

Wie jedoch war es möglich, dass aus diesem Universalismus des Als-ob-nicht der universelle Herrschaftsanspruch einer Kirche werden konnte? Hier sollten wir uns erneut Walter Benjamins Formel ins Gedächtnis zurückrufen, nach der jeder Faschismus das Zeichen des Scheiterns einer Revolution ist. Tatsächlich gelang es dem Christentum erst in dem Moment, das Reich zu übernehmen, als es bereits durch Machtkämpfe im Inneren und äußere Bedrohungen am Rand der Vernichtung stand. Im Grunde hat Rom das Christentum übernommen (und nicht umgekehrt): Die These, dass die christliche Jenseitsfixierung das römische Reich zerstört habe, muss umgedreht werden: das Reich stand bereits vor dem Zusammenbruch und die Übernahme der einigenden Religion zögerte den Zerfall nochmal um einige Jahrhunderte hinaus. Wenn die Jenseitsfixierung ein Verhängnis war, dann nur insofern, als den Christen vorgeworfen werden kann, in der Zeit vor der Übernahme des Christentums durch Rom dem Reich nicht genug offenen Widerstand geleistet zu haben.

Als "weltliche" Nachfolger des römischen Reiches bildeten sich das Frankenreich, das später das heilige römische Reich deutscher Nation werden sollte, und das oströmisch-byzantinische Reich heraus. Der eigentliche Nachfolger des Reiches war jedoch die Kirche, die den christlichen Universalismus gänzlich vom Als-ob-nicht befreite und so umbaute, dass es letztlich einfach den römischen universellen imperialistischen Herrschaftsanspruch reproduzierte und theologisch grundierte. Das ist jedoch nicht einfach Entschuldigung des Christentums oder eine Betonung eines "authentischen Kerns" gegen seine Verzerrung durch die Kirchen. Die Frage ist vielmehr: Wie konnte sich überhaupt aus dem ursprünglichen Universalismus der Ausgeschlossenen und des Als-ob-nicht der universelle imperialistische Anspruch einer "weltanschaulich" bestimmten doktrinären, hierarchischen politischen Ecclesia entwickeln? Wie im Falle des Marxismus ist ein Scheitern der Praxis nicht einfach ein Resultat ungenügender Anwendung einer abstrakten Theorie, da die Theorie selbst nichts anderes ist als die Struktur ihres eigenen Bezuges zu ihrer Anwendung in der Praxis (vgl. Wittgenstein). Wie der Marxismus hat auch das Christentum entweder eine (in einem fast kantischen Sinne) praktische Bedeutung oder gar keine. Daher ist ein Fehlschlag in der Praxis stets Symptom grundlegender theoretischer Schwächen, die eine grundsätzliche und radikale (Selbst-)Kritik erfordern. Während der Marxismus inzwischen zu einer solchen Kritik kommt (auch in Folge seiner gesellschaftlichen und politischen Niederlage), steht sie im Falle des Christentums immer noch aus. Dafür ist es nötig, dass Christen anfangen, sowohl die Existenz der Kirchen als auch die politische und gesellschaftliche Macht des Christentums selbst und seiner Kirchen und Organisationen (katholischer ebenso wie orthodoxer, protestantischer oder freikirchlicher) in der heutigen Welt als Nachwirkungen und Symptome des Scheiterns der Opposition des Christentums gegen das römische Reich zu betrachten.

Medien und Klassenkampf

Es gibt zahlreiche Beispiele für Klassenkampf in den Medien. So werden z.B. illegale Musikdownloads in den Medien (insbesondere im Fernsehen) als "Raubkopien" oder "Piraterie" bezeichnet und so suggeriert, dass es sich um Eigentumsdelikte handele, während es sich in Wirklichkeit um Urheberrechtsdelikte handelt. Umgekehrt werden Steuerhinterzieher und andere Wirtschaftskriminelle verharmlosend als "Steuersünder" bezeichnet, als ob es sich dabei um eine harmlose persönliche Eigenart handelt und nicht um schwere kriminelle Akte. Wenn man sich klar macht, welche Bevölkerungsgruppen jeweils welche Taten am wahrscheinlichsten begehen, wird der Klassenkampfcharakter dieser Benennung deutlich.

Heute wird oft gesagt, "linke Klassenkampfrhetorik" sei "veraltet". Das Bestehen einer formalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mag den Eindruck erwecken, der Kampf der beherrschten Klasse um Freiheit und Gleichheit sei damit bereits gewonnen (aber dass davon keine Rede sein kann, zeigen u.A. diese beiden Beispiele). Wenn ein solcher Eindruck besteht, kann es sinnvoll sein, diesen Kampf zunächst einmal nicht als Klassenkampf zu symbolisieren.

"Klassenkampf" sollte man aber auch und vor allem den Kampf der herrschenden Klasse um den Erhalt und Ausbau ihrer Privilegien bezeichnen. Das Pivileg, in den Medien und in der Öffentlichkeit diejenige Art von Verbrechen, die überwiegend von Mitgliedern der eigenen Klasse begangen wird, verharmlosend und alle anderen (insbesondere wenn sie profitgefährdend sind) überspitzt zu symbolisieren, ist ein solches Privileg. Gerade darum ist z.B. auf Habermas' Behauptung einer zivilen "Öffentlichkeit" als Ort freier Diskurse mit der Unterscheidung zwischen bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit zu antworten.

Grausamkeit an Schulen

Die Funktion, die in der Institution Schule früher die Prügelstrafe einnahm, ist heute von den Lehrern auf die Schüler übergegangen. Der Lehrer, der früher bei schlechter Leistung oder Fehlverhalten "die Rute schwang", hat heute nur noch die Aufgabe, das Defizit und seinen Träger auf die eine oder andere Weise vor der Klasse bloßzustellen, sozusagen "das Ziel zu markieren". Das Recht und die Pflicht zur Bestrafung ist hingegen gänzlich aus der Hand des Lehrers in die der Schüler übergegangen und wird auch nicht mehr vor der Klasse vollstreckt, sondern durch kleine Gruppen, teilweise sogar quasi-organisierte "Cliquen", die auf die eine oder andere Weise durchaus dazu motiviert werden, in den Pausenhöfen oder auf den Schulwegen, also an Orten, an denen die offiziellen Mächte nicht hinreichen oder sich absichtlich zurücknehmen und über deren Funktionen daher in ihrem Diskurs nicht gesprochen werden soll. Dabei muss es noch nicht einmal zu offener Gewalt kommen, denn die viel subtilere psychische Gewalt, allenfalls von Zeit zu Zeit supplementiert durch offene Übergriffe und gepaart mit einem massiven Anpassungszwang, hat sich als viel effektiver erwiesen, den Willen der Schüler zu brechen und sie dauerhaft auf Linie zu bringen, als es die alten Methoden der offenen Unterdrückung je waren. Eine "Liberalisierung" oder ein "zivilisatorischer Fortschritt" ist das allenfalls in dem Sinne, in dem Robespierres terreur ein Fortschritt gegenüber dem ancièn régime oder der stalinistische Kollektivterror ein Fortschritt gegenüber der Grausamkeit des Zarenreichs war. Suizide, Gewaltopfer, Amokläufe und andere Formen ultra-subjektiver Grausamkeit sind nicht unerklärbar, keine Ergebnisse psychischer Probleme der Täter oder Opfer und kein Ergebnis von Computerspielen oder Gewalt in den Medien, sondern einfach exzessive Nebenprodukte dieser neuen ultra-objektiven Formen der Gewalt.

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 10. Januar 2011, 02:11
von Apfelsator
Bisher immer noch der beste Text den ich dazu gelesen habe, nicht frei von Fehler allerdings in der Grundidee für mich sehr prägend und schlüssig.
http://www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit
Proletarier aller Länder, macht Schluß!

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 10. Januar 2011, 06:31
von Tarvoc
Im Prinzip schon. Nur weiss niemand, wie man Schluss macht. Auch diese Leute nicht. ;)

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 13. Januar 2011, 01:21
von Bwana Honolulu
 ! Nachricht von: Bwana Honolulu
Liebig-14-Thread mal abgetrennt.

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 1. März 2012, 11:35
von Bwana Honolulu
Zum Thema "Schluss machen mit Kapitalismus" hab' ich gerade einen interessanten Gedanken aus dem Äther gefischt:
Lord Caramac hat geschrieben:Die Weltwirtschaft ist einfach aus dem Planeten herausgewachsen und braucht einen größeren:
Lord Caramac hat geschrieben:Eigentlich brauchen wir eine geordnete Insolvenz für das globale Gesamtsystem Kapitalismus und einen Plan dafür, wie es danach weitergeht. Wenn wir versuchen, den Kapitalismus zu retten (was aus Gründen der Physik, Chemie, Biologie nicht möglich ist), dann enden wir nur mit einem ungeordneten Zusammenbruch. Wenn man sich einmal ansieht, wieviel Ressourcen verbraucht werden, und wieviel nachhaltig machbar ist, dann muß bei einem Kollaps des Kapitalismus damit gerechnet werden, daß die deutsche Wirtschaft in kurzer Zeit um etwa 70% schrumpft, die US-Wirtschaft um ca. 90% - das bedeutet dann den totalen gesellschaftlichen Zerfall, wenn am Kapitalismus festgehalten wird.
Global muß die Wirtschaft notwendigerweise um mindestens 50% schrumpfen, wenn sich kein neues realwirtschaftliches Paradigma findet.

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 1. März 2012, 17:16
von Apfelsator
Na hoffentlich dauert das nicht mehr so lang :chaos: :ugly:

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 1. März 2012, 17:41
von Bwana Honolulu
Naja, halt' dich ran! :granate:
XD

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 1. März 2012, 21:52
von Apfelsator
What? Nee ich warte doch nur xD

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 1. März 2012, 21:54
von Cpt. Bucky Saia
Dazu vieleicht dies hier.
Dirk Müller: "Wir befinden uns in der Endphase vor dem Reset"
Dirk Müller spricht im Interview über die europäische Schuldenkrise, die Zukunft des Euro und darüber, dass der Bürger im bestehenden System "schlicht und ergreifend immer der Dumme“ ist.
http://www.goldseiten.de/artikel/129875 ... Rese~.html

Re: Kapitalismuskritik - Materialsammlung

Verfasst: 15. März 2012, 16:34
von Tarvoc
Tarvoc hat geschrieben:Die Frage der Entfremdung

Eine marxistische Standardkritik (bzw. ein Aspekt von ihr) an der Entfremdung des (Industrie-)Arbeiters im industriellen Arbeitsprozess lautet ungefähr folgendermaßen:
Der Arbeiter ist ökonomisch gezwungen, an einer Maschine zu arbeiten, die ihm nicht gehört, mit Material, dessen Herkunft er nicht kennt, das Produkt wird ihm entfremdet, etc. und daher wird er gewissermaßen auf ein bloßes Maschinenteil reduziert, was man Entfremdung nennt.

Aber kann man das so sagen? Impliziert denn nicht der Begriff der Entfremdung gerade, dass das Lohnarbeitsverhältnis (mit den eben beschriebenen Phänomenen) die Identifikation des Arbeiters mit den eigenen Arbeitsbedingungen gerade verhindert? Man ist ja nicht insofern entfremdet, als man sich identifiziert, sondern insofern, als man es nicht vermag.

Möglicherweise klärt sich die Frage durch eine weitere Verschiebung: Was ist, wenn der sprichwörtliche Status des Arbeiters als bloße "Verlängerung der Maschine" ein doppelter ist? Nicht nur der Arbeiter wird zum "Maschinenteil", zur "Verlängerung der Maschine", und deshalb ist er als Individuum entfremdet, sondern auch die Entfremdung des Arbeiters von der Maschine ist bereits eine "Verlängerung" der Entfremdung der Maschine von sich selbst.

Im Kapitalismus ist die Maschine Privateigentum, d.h. ihr eigenes Funktionieren wird im Allgemeinen nur als Mittel in Zweck-Mittel-Relationen zum Zwecke der Mehrwertproduktion gedacht und nicht z.B. als Selbstzweck oder sogar noch irgendwie anders. Die Maschine selbst ist somit bereits von diesen anderen ihr innewohnenden Möglichkeiten, sie und ihre Tätigkeit zu verstehen und zu verwenden, entfremdet, und die Entfremdung des Arbeiters von seinen Arbeitsbedingungen und den dazu gehörenden Maschinen lässt sich verstehen als "Verlängerung" dieser Entfremdung der Maschine von sich selbst.

Deshalb ist die marxistische Redeweise von den "Produktionsmitteln" und ihrer Aneignung durch das Proletariat streng genommen noch bürgerlich-idealistisch. Reduziert auf den Status als "Produktionsmittel" treten Maschinen überhaupt erst aufgrund der Logik des Kapitalismus auf, und wenn es nicht gelingt, die Tätigkeit der Maschine (und damit auch unsere Beziehung zu ihr) anders zu verstehen und zu handhaben denn als bloße Funktion, also als bloßes Mittel zum Zweck, wird auch die "Aneignung der Produktionsmittel durch das Proletariat" nur Stückwerk bleiben, indem einfach nur der Kapitalist ausgetauscht wird. Im schlimmsten Falle übernehmen die Organisationen und (selbsternannten) Repräsentanten des Proletariats selbst die Rolle des ausbeutenden Kapitalisten, wie es etwa im Stalinismus der Fall war.

Wir müssen die Maschinen befreien, damit wir uns selbst befreien können.
Für alle, die's interessiert: Ich werde meine Promotionsarbeit wahrscheinlich über die Ethik von Karl Marx schreiben, und dieser Essay wird zumindest dem Inhalt nach vermutlich in irgendeiner Form in der Arbeit wieder auftauchen.